Bist du gross geworden mit Eltern, die dich aus ganzem Herzen geliebt haben und dir das auch gezeigt haben? Eltern, die dich jederzeit aufgefangen haben und andererseits frei gelassen haben, deine eigenen Fehler zu machen? Eltern, mit denen du deine Sorgen teilen konntest ohne belehrt zu werden?
Für ausnahmslos alle Patienten von mir klingt das wie ein Märchen. Das es so etwas gibt, ist für sie nicht vorstellbar, oder es existiert in einer alternativen Realität.
Mir geht es hier nicht um Schuldzuweisungen. Die bringen niemanden weiter. Jeder, unsere Eltern inklusive, haben ihre eigene Geschichte, die sie zu dem gemacht haben, wer sie sind.
Wenn wir erwachsen sind, können wir uns nicht mehr hinter unserer anspruchsvollen Kindheit verstecken. Es ist an uns etwas zu tun. Darauf zu warten, dass unsere Eltern uns endlich die Liebe geben, die wir früher gebraucht hätten, ist vergeblich. Sie konnten einfach nur so handeln, wie sie das gemacht haben, weil sie es von ihren Eltern nicht anders gelernt haben. Ja, damit sind auch die Schläge und der Missbrauch gemeint, unter dem viele von uns gelitten haben.
Nicht selten erzählen mir meine Patienten, dass sie den Kontakt abgebrochen haben. Die Konflikte schwelen natürlich im Untergrund weiter.
Vor Jahren hatte ich als Notarzt mal einen Suizid eines jungen Mannes. Er hatte sich nur drei Tage nach dem Tod seiner Mutter umgebracht. Die Ehefrau meinte, sie verstünde das nicht. Sie hätten schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zueinander. Verwunderlich finde ich das nicht. Solange die Eltern leben, selbst wenn ich keinen Kontakt habe, besteht immer noch die Chance. Der Tod ist final, eine Klärung unmöglich.
Frieden durch Wegsehen und Verdrängen ist hochgradig fragil und gleicht einer Bombe mit Zeitzünder. Irgendwann wird der Zünder aktiviert, und du kannst nur noch zusehen, wie dir alles um die Ohren fliegt.
Es gibt Kreuzungen im Leben, an denen wir entscheiden müssen, wie wir abbiegen. In solchen Situationen kommt das Alte gerne wieder hoch, oft noch verstärkt durch den aktuellen Knatsch.
Was tun?
Von Missbrauch zu Frieden in fünf Sekunden ohne Schmerzen, Trauer und sonstige Unannehmlichkeiten – das gibt’s nur im Film. In der Realität geht es um das Erkennen des eigenen Anteils und das nachträgliche Betrauern der erlittenen Verletzungen. Viele von uns müssen erst mal lernen milde mit sich selbst zu sein.
Ich hab die längste Zeit meines Lebens Weichheit mit Schwäche verwechselt. Hab auf die herabgeschaut, die sich als verletzbar zu erkennen gegeben haben.
Erst wenn meine Verletzungen SEIN dürfen, ich das akzeptieren kann, ohne kämpfen zu müssen, erst dann fällt die Last von meinen Schultern und meinem Herzen. Erst dann wird mein Blick zurück milde. Meine Eltern dürfen dann sein, was sie sind, Menschen mit Stärken und Schwächen wie ich auch.
Das heisst nicht, dass wir uns dann alle ganz lieb haben. Es geht um die innere Haltung. Bin ich innerlich in Frieden oder auf Krawall gebürstet. Ewiger Kampf hält dich fest, Loslassen macht frei.
Seht ihr das anders oder ähnlich? Redet mit mir. Hinterlasst mir einen Kommentar. Ich freu mich drauf.